War Elia ungehorsam? (1.Könige 19,15)
Frage: Beim Studium des Lebens und Wirkens des Propheten Elia bin ich bei 1. Könige 19,15 angekommen, wo der HERR seinem frustrierten und deprimierten Diener einen dreifachen Auftrag gibt. Elia führt aber nur den 3. Teil des Auftrags aus, indem er Elisa als seinen Nachfolger einsetzt. Teil 1 mit Hasael und Teil 2 mit Jehu erledigt erst Elisa bzw. ein Prophetenschüler. War Elia ungehorsam oder war es Gott egal, ob Elia bzw. sein Nachfolger die Aufträge ausführt?
Antwort: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen. Ausleger bieten Alternativen an. Die unterschiedlichen Möglichkeiten sollen auch in dieser Fragenbeantwortung dargestellt werden, ohne eine abschließende Wertung vorzunehmen. Wir überlassen dem Leser bewusst seine Entscheidung.
1. Erklärungsversuch
So zu tun, als läge kein Problem vor. Das heißt, die Schwierigkeiten der Auslegung werden ignoriert oder nicht ernst genommen. Aber offenkundig macht das der Fragesteller zurecht nicht.
2. Erklärungsversuch
Andere schlagen vor, dass Elia alle drei Aufträge tatsächlich ausgeführt habe, jedoch wird nur über die Erfüllung des dritten Auftrags, die Salbung Elisas, berichtet. Das passt jedoch kaum zu den Texten in 2. Könige 8 und 9. In 2. Könige 8 wird der Charakter von Hasael deutlich. Er reißt sofort nach dem Hinweis von Elisa, dass er, Hasael, der zukünftige König in Syrien sein würde, die Macht an sich und bringt seinen König Ben-Hadad um. Das hätte er vermutlich auch dann unverzüglich getan, wenn Elia ihn Jahre zuvor zum König über Syrien gesalbt hätte.
3. Erklärungsversuch
Ein dritter Erklärungsversuch ist, dass mit der Salbung Elisas auch die Aufgabe von Elia an ihn überging. Dem gegenüber aber steht die klare Aufforderung an Elia, die drei Aufgaben zu erledigen. Dazu kommt noch die vorgegebene Reihenfolge der drei Aufgaben, gewissermaßen erstens, zweitens und drittens. Hat Elia wirklich Elisa gesalbt?
4. Erklärungsversuch
Elia war ungehorsam. So wie wir den Unglauben Elias in diesem Kapitel erkennen können, wird auch der Ungehorsam Elias sichtbar. Er führt nur einen von drei Aufträgen aus.
Sicherlich, wir finden Elia in diesem Kapitel nicht auf dem Höhepunkt seines geistlichen Glaubenslebens. Aber, wer will diesem treuen Diener und Mann Gottes vorwerfen, er hätte bewusst gegen den Auftrag Gottes gehandelt? Dazu gibt es in den nächsten Kapiteln keinerlei Hinweise.
5. Erklärungsversuch
Elia führt keinen der Aufträge aus. Als er nach dem Befehl Gottes zurückkehrte, fand er als erstes Elisa. Ließ Gott ihm das so begegnen? In seiner Demut, nachdem er die Lektion in der Wüste gelernt hat, überträgt er seine Autorität als Prophet an Elisa, indem er ihm den Prophetenmantel umlegt. Damit verbunden ist der Verzicht auf sein Amt und gleichzeitig das Delegieren der Aufgaben an seinen Nachfolger. Auffallend ist, dass Elia Elisa nicht salbt.
„Elia nimmt diese demütigende Belehrung an; er unterwirft sich, als Gott zum vierten Mal zu ihm sagt: „Geh“ (vgl. Kap 17,3.9; 18,1) und kehrt des Weges zurück, den er gekommen war. Er findet Elisa, den Sohn Saphats, und wirft seinen Mantel auf ihn, zum Zeichen, dass er sich als Prophet mit ihm einsmacht. Wenn er sich an den Buchstaben des Wortes Gottes gehalten hätte, so hätte er damit beginnen müssen, Hasael und Jehu zu salben (vgl. V. 15 und 16); aber er beeilt sich, die Tat auszuführen, die ihn, den großen Propheten, beseitigte. Indem er seine Autorität einem anderen überträgt, tritt er selbst vom Schauplatz ab. Er, der gesagt hatte: „Ich bin allein übrig geblieben“, zeigt so, dass er fortan nichts ist in seinen eigenen Augen. Was Hasael und Jehu betrifft, so werden sie nicht von Elia, sondern von Elisa gesalbt. Elia verzichtet auf das, was ihn hätte hervortreten lassen können, und überlässt die Vollziehung des Werkes einem anderen“ (Zitat: H. Rossier, Betrachtungen aus dem 1. und 2. Buch der Könige).
„Dem Wortlaut nach hat er ihn [den Auftrag] nicht ausgeführt; wenigstens ist nichts davon zu lesen. Auch salbte er Elisa nicht, als er ihn antraf. Und jener salbte anscheinend den Hasel nicht, während er Jehu durch einen Beauftragten salben ließ … Jesus befahl den zehn Aussätzigen, sie sollten hingehen und sich den Priestern zeigen. Kein Wort sagte Er vom Zurückkehren zu Ihm. Und doch lehrt die Geschichte (Lk 17,11ff.), dass neun, die anscheinend seinem Befehl nachkamen, nicht besser handelten. Das tat jener, der den Befehl nicht ausführte, sondern zu Ihm zurückkehrte und Ihm für die Heilung dankte.
Könnte es nicht sein, dass Elia – wie der Samariter – besser handelte? War es nicht eine Selbstverleugnung, dass er den Prophetenmantel auf Elisa warf, weil der gerade der erste war, den er antraf? Eben noch hatte er sich bei dem HERRN an die Brust geworfen und gesagt: ich allein bin auf dem Plan für Dich! Und nun teilt er schon sein Prophetenamt mit dem Nachfolger, als ob er sagen wollte: Ich sehe ein, dass ich zu viel von mir gehalten habe, darum will ich das dadurch wieder gutmachen, dass ich gleich den Nachfolger, den der HERR mir bestimmt hat, von seiner Berufung in Kenntnis setzte, falls er meine Handlungsweise versteht (nämlich das Überwerfen des Mantels). Und weil jener so verständnisvoll auf diese unausgesprochene Aufforderung einging, mochte Elia leicht bei sich urteilen: Der ist würdiger als du, die beiden andere Mandate zu übernehmen (vgl. Gal 2,7–9). Dass Elisa sie ausführte, beweist, dass er mit Elia sozusagen eins gemacht ist.
Wir können weiter denken, dass Elia sich bei der raschen Berufung seines Nachfolgers sagte: das Salben Elisas will ich lieber Jehova überlassen, er wird es kräftiger machen, als ich es tun kann; und das wurde ja auch so: Elisa empfing eine doppelte Salbung, ein doppeltes Teil von dem Geist, der auf Elia war. Von dieser Tatsache aus ist es nur ein Schritt zu urteilen: Dieses doppelte Maß des Geist wird den, dem es gegeben war, wohl erleuchtet haben, wie die überkommenen Mandate am besten zur Ausführung zu bringen seien“ (Zitiert aus Biblische Fragen beantwortet von Franz Kaupp).
6. Erklärungsversuch
Irgendwie muss das Ganze im Zusammenhang mit den Stichworten Ahab, Isebel, Feldstück von Nabot in Jisreel usw. zu tun haben. Denn bei der Salbung Jehus zum König über Israel durch den Prophetensohn in 2. Könige 9 wird das Thema aus 1. Könige 21 aufgenommen.
Es kann sein, dass Elia dem Auftrag Gottes gegenüber ungehorsam war. Es kann aber auch sein, dass Elia verhindert oder von Gott anders geführt wurde (siehe zum Beispiel auch Erklärungsversuch 4). Was immer der Grund auch sein mochte, eine Sache ist absolut sicher: Es war Gottes Wille.
Der Grund für die Verzögerung zeigt sich wenig später in der Geschichte. Nachdem Gott Elia diesen dreifachen Auftrag erteilt hatte und er Elisa den Prophetenmantel umgelegt hatte (1Kön 19), hören wir von Elias bis 1. Könige 21,17 nichts mehr.
Ahab will einen angrenzenden Weinberg, der Nabot, dem Jisreeliten, gehört, erwerben. Nabot will und kann ihn nicht verkaufen, denn dies ist sein Familienerbe. Isebel, die Frau Ahabs, lässt Nabot ermorden, indem er ihn zuvor durch falsche Zeugen der Lästerung beschuldigt. Ahab will den Weinberg Nabots in Besitz nehmen. Das Wort des HERRN ergeht jedoch an Elia. Er bringt das Gerichtsurteil Gottes über das Haus Ahabs (1Kön 21,21–24).
Man kann vermuten, dass Elia ein Stück weit Befriedung empfand, als er Ahab und Isebel Gottes Gericht verkündigte. Hatten diese nicht schon versucht, sein Leben zu beenden? Waren diese beiden nicht das böseste Königspaar, das jemals Israel regiert hatte.
Wie erstaunlich muss es aber dann für Elia gewesen sein, dass Ahab seine Kleider zerriss, Sacktuch anlegte und fastete. Ahab tat Buße. Er demütigte sich vor dem HERRN und der HERR machte Elia auf diese Tatsache extra aufmerksam (1Kön 21,27–29).
Liegt hier die Lösung für die Fragestellung? Gott hatte das Urteil über Ahab und Isebel ausgesprochen, dass Hasael, der König von Syrien, und Jehu den Thron Israels einnehmen würden (1Kön 19). Aber dieses Gericht wurde in 1. Könige 19 verzögert, weil Gott Ahabs Reue kundmachen wollte, die aber erst in Kapitel 21 aufgezeigt ist.
Sehen wir nicht etwas Ähnliches im Buch Jona? Die Leute von Ninive waren böse. Die Bosheit war vor Gott aufgestiegen (Jona 1,2). Jona erhielt den Auftrag, nach Ninive zu gehen und gegen diese große Stadt zu predigen. Die Botschaft, die er nach einigen Irrungen an die Menschen in Ninive richtete war: „Noch vierzig Tage, dann wird Ninive umgekehrt!“ (Jona 3,4). Doch Ninive tat Buße, ganz im Gegensatz zur Vorstellung Jonas, der darüber wütend wurde. Gott ließ es sich jedoch gereuen (Jona 3,10), wie es auch in Jeremia 18,7-8 steht.
Hätte Elias Hasael sofort zum König über Syrien und Jehu zum König über Israel gesalbt (1Kön 19), würde Ahab nicht die Gelegenheit zur Buße gehabt haben. Er und seine ganze Familie hätte unverzüglich sterben müssen. Die Verzögerung wurde von Gott so konzipiert, dass Ahab bereuen konnte, indem das feststehende Urteil verzögert wurde.
So wurden diese zwei Aufträge nicht sofort ausgeführt, weil Gott sich vorgenommen hatte, Ahab zu einem gewissen Maß an Reue zu bewegen. Auf Basis dieser Umkehr würde das Gericht über Ahabs Haus ebenso verzögert werden. Das Gericht sollte in den Tagen seines Sohnes (vgl. 1Kön 21,19 mit 2Kön 9) erfolgen. Wer hätte je erwartet, dass Ahab Buße tun würde und eine Verzögerung des Gerichts erfolgen sollte?
Vielleicht gibt es noch eine zweite Sache, die eine Verzögerung veranlasste. In 1. Könige 19,18 informiert Gott Elia, dass er nicht der „Einzige“ in Israel war, sondern dass es noch 7000 gab, die ihre Knie nicht vor dem Baal gebeugt hatten. Das waren solche, die Gott vor dem Gericht verschonen würde. Liest man den Bericht in 2. Könige 8, so scheint es, dass nur noch eine Handvoll der Treuen im Land waren. Hat Gott das Gericht hinausgeschoben, bis es nur noch wenige Treue in Israel gab? Und war das dann nicht ein Hinweis auf die Barmherzigkeit und Langmut Gottes? Es scheint fast so.
Eine ähnliche Verzögerung des Gerichts finden wir in 2. Könige 20,1–11. Der König Hiskia ist todkrank. Jesaja sagt ihm, dass er sterben würde. Hiskia dreht sein Gesicht zur Wand und betete, dass Gott sein Leben verlängern möge. Jesaja war kaum von Hiskia weggegangen, da sagte Gott zu ihm, dass er zu Hiskia zurückkehren sollte. Hiskia würde weitere 15 Lebensjahre geschenkt bekommen. Diese Prophezeiung würde durch das Zeichen der „zurückgedrehten Sonnenuhr“ bestätigt werden.
Auch hier sehen wir, wie eine Ankündigung Gottes aufgrund von Buße und einer Bitte verzögert wird.
Hat unser Herr nicht auch gesagt, dass er bald wiederkommen würde? Lebten die Apostel nicht auch in der Naherwartung des Herrn? Und doch wissen wir, dass der Herr nicht die Verheißung hinauszögert. Denn Er ist langmütig gegen uns, da Er nicht will, dass irgendwelche verlorengehen, sondern alle zur Buße kommen (2Pet 3,9).
Volker Waltersbacher